Den Rettungsschirm spannen

Der Gang in die Insolvenz kann eine Lösung sein, die­ ­Liquiditätskrise zu überwinden. In der Eigenverwaltung­ behält der Firmenchef die Zügel selbst in der Hand, um sein Geschäft zu retten. Wie dies funktionieren kann.

Von Eva Neuthinger 04.06.2020

Schutzschirmverfahren sind nur dann zulässig, wenn die Firma zahlungsfähig ist.

Trotz Insolvenz sieht sich Textileinzelhändler Ali Ghiassi in der Coronakrise gut aufgestellt. „Wenn wir unsere Firma vor einem Jahr nicht komplett saniert hätten, müssten wir unsere Türen infolge des Umsatzverlustes durch das Virus jetzt für immer schließen“, sagt der Geschäftsführer der Firma AFG Vertriebs GmbH. Im Hamburger Schanzenviertel führt er unter dem Label Backyard Store auf einer Fläche von 320 Quadratmetern ein Geschäft für Damen- und Herrenoberbekleidung. Außerdem unterhält er noch eine Filiale in Hannover.

Das Insolvenzverfahren sollte das Amtsgericht im März beenden, nachdem der Firmenchef mithilfe seiner Unternehmensberater das Einzelhandelsunternehmen neu strukturiert hat. „Das Gericht konnte wegen Covid-19 das Verfahren allerdings nicht mehr abschließen. Wir erfüllen aber alle Voraussetzungen, um wieder voll durchzustarten“, betont Ghiassi.

Er nimmt es gelassen, wie die Krisensituation überhaupt. „Wir haben keine Schulden mehr, stehen entsprechend nicht unter dem Druck, Kredite tilgen zu müssen“, erklärt Ghiassi. Um dies zu erreichen, reduzierte er seine Fixkosten: Konkret wurden vier Filialen in anderen Städten geschlossen. Aus dem Team von zuvor 70 Kollegen beschäftigt er nun 16 Mitarbeiter weiter und löste zudem seinen Onlineshop auf. „Weil wir mit den in unserer Branche üblichen 40 Prozent Retouren konfrontiert waren“, so der Textileinzelhändler. „In der aktuellen Situation ist es für uns ein Segen, dass wir uns verkleinert haben.“

Als er dann im März seine beiden Läden wegen der Corona-Maßnahmen schließen musste, beantragte er Kurzarbeitergeld für seine Mitarbeiter: „Unsere Vermieter zeigen sich kooperativ und sind bereit, unsere monatlichen Zahlungen zu stunden.“ So komme er über die Runden.

Den richtigen Moment nicht verpassen

Der Fall zeigt: In schwieriger Zeit kann eine Insolvenz Chancen eröffnen. Das gilt, wenn das Unternehmen noch über die notwendige Liquidität für eine Sanierung verfügt – falls also die Voraussetzungen gegeben sind, um die Insolvenz in Eigenverwaltung durchzuziehen beziehungsweise das Schutzschirmverfahren für sich zu nutzen. Letzteres ist die Kür und nur dann zulässig, wenn die Firma zahlungsfähig ist.

„Oft verpassen Unternehmer aber den Moment“, warnt Volker Riedel, Sanierungsexperte und Partner der Unternehmensberatungsgesellschaft Dr. Wieselhuber und Partner in München. Grundsätzlich müssen die Geldbestände plus die liquiden Zugänge der nächsten drei Wochen 90 Prozent der fälligen Verbindlichkeiten decken. Der Unternehmer darf mit den Sozialversicherungsbeiträgen für das Team sowie mit seinen Steuerzahlungen höchstens einen Monat im Rückstand sein. „Spätestens, wenn die Lieferanten zu mahnen beginnen, wird es höchste Zeit, zu handeln“, rät Thomas Planer, Geschäftsführer der Unternehmensberatungsgesellschaft Planer und Kollegen, der sich auf Insolvenzverfahren spezialisiert hat.

In das Verfahren einzutreten, setzt eine strenge Kontrolle des Zahlenwerks voraus. Allein: Viele Händler vernachlässigen ihr Controlling. Sie erstellen weder eine Liquiditäts- noch eine Umsatz- oder Finanzplanung. In der derzeitigen Situation sind Prognosen natürlich noch weitaus schwieriger und kaum zielgenau zu treffen. „Dennoch sollte sich der Einzelhändler gemeinsam mit einem erfahrenen Berater die Zeit nehmen, die Geschäftsentwicklung zu analysieren und seine Optionen für den Sanierungsweg auszuarbeiten“, sagt Planer.

Gerichte akzeptieren die Eigenverwaltung, wenn sich die Gläubiger im Verfahren nicht benachteiligt sehen. Das muss ein Sanierungsplan belegen, der die positive Fortführungsprognose des Geschäfts dokumentiert. Eine kurze Erläuterung der wirtschaftlichen Entwicklung der vergangenen drei Jahre steht voran. Die Analyse der Krisenursachen und die vollständige Auflistung der möglichen Maßnahmen werden ebenso erwartet wie eine Vorausschau auf den Zeitraum des Verfahrens und die Liquiditätsplanung über mindestens drei Monate.

Planer holt die Gläubiger – wie etwa die Hausbank – bewusst frühzeitig ins Boot. „Wir binden sie direkt in das Sanierungsvorhaben ein. Das schafft Vertrauen bei allen Beteiligten, auch vor Gericht“, so der Sanierungsexperte. Die Gläubiger stimmen einem Sanierungsvorhaben zumeist zu, wenn sie Einblick ins Geschehen haben. Ihre berechtigte Erwartungshaltung ist, mit einer höheren Quote befriedigt zu werden als bei einer möglichen Zerschlagung. In der Regel erhalten sie im regulären Insolvenzverfahren weniger als drei Prozent ihrer Forderungen, bei der Eigenverwaltung liegt der Anteil bei rund zwanzig Prozent.

Damit es gut läuft, muss das Verfahren entsprechend durchdacht und vorbereitet sein. Unternehmer kalkulieren mit rund vier Wochen. Das Gericht bestellt kurzfristig einen sogenannten Sachwalter. Ihm obliegt die Kontrolle in Form einer Art Aufsichtsrat. Er beobachtet das Verfahren, hat aber keine aktiven Rechte.

Der Sanierungsprozess kann starten. Die Mitarbeiter erhalten für drei Monate Insolvenzgeld. Das Finanzamt verzichtet auf Umsatzsteuerzahlungen, Gläubiger dürfen keine Vollstreckungsmaßnahmen einleiten. Verträge sind mit einer Frist von drei Monaten kündbar.

Diese Werkzeuge der Insolvenz brachten für Einzelhändler Ghiassi in Hamburg den Durchbruch. Seine Kunden haben von der Krise nichts bemerkt. „Im stationären Einzelhandel stellen wir fest, dass die Verbraucher den Geschäften ihrer Region sonst auch helfen wollen“, sagt Planer, der Ghiassi beraten hat. Ein Insolvenzverfahren bedeute zwar einen Verlust an Reputation. „Aber“, so Planer, „wenn die Sanierung gelingt, kann der Händler seine Bonität wieder steigern.“